Hausarbeit 29.1.94 ---------- 30.1.94 Interpretation: Peter Bichsel: "Die Tochter" -------------------------------------------- Die Kurzgeschichte "Die Tochter" von Peter Bichsel behandelt das Problem, einer Familie, deren erwachsene Tochter in der Stadt arbeitet und zu ihren auf dem Land gebliebenen, alt gewordenen Eltern keine richtige Beziehung mehr hat. Der Text schildert eine Stunde zwischen 18.30 Uhr und 19.30 Uhr am Tisch der Eltern, die um diese Zeit auf ihre Tochter warten. Der Text beschreibt hierbei die Ge- danken und die kurzen Gesprächsfetzen, die während dieser Zeit sich entwickeln. Die Geschichte läßt sich in insgesamt drei Abschnitte gliedern. Der erste Abschnitt (bis Z. 7) und der letzte(Z. 45/46) bilden einen Rahmen um den mittleren. Ersterer führt in die Geschichte ein und beschreibt rein äußerlich, ohne auf die Personen einzugehen, die Situation, letzterer löst sie wieder auf, in dem die Ankunft der Tochter die Gedanken der Eltern unterbricht. Der zweite Abschnitt beschreibt teils in erlebter Rede(s.u.) die Gedanken und die dadurch ausgelösten kurzen Dialoge der beiden Menschen. Er läßt sich wiederum in kleinere Abschnitte unterteilen: in Gedanken der Mutter (Z.8 - Z.10), Gedanken des Vaters (Z. 11 - Z. 19) und beider Gedanken (Z. 20 - Z. 34). Dann folgt der Einschub vermutlich einer Erinnerung der Mutter an die Worte einer Bekannten über ihre Tochter. Dies liegt nahe, da die Mutter auf diese Worte ("sie hat alles von deiner Schwester") ein kurzes Gespräch mit ihrem Mann anfängt: "Andere Mädchen rauchen auch". Auf diesen Dialog folgt ein kurzer Abschnitt wiederum mit Gedanken des Vaters. Der Text ist aus der Sicht des allwissenden Erzählers geschrieben, der sich beliebig in die Gedanken der beiden Personen am Tisch hineinversetzen kann. Als Hauptstilmittel des Textes fungiert die erlebte Rede, mit der viele Gedanken des zweiten Abschnitts dargestellt werden. Durch sie wird die Einteilung und Zuordnung der Gedanken kompliziert, aber dafür hat der Autor erreicht, daß der Leser sich sehr gut in die Wartesituation und die Gedanken der Eltern hinein- versetzen kann. So kann man oft sehr schwer trennen zwischen Informationen, die der allwissende Erzähler dem Leser gibt, und Gedanken, die durch erlebte Rede dargestellt werden. Am Anfang des zweiten Abschnitts kann man im Prinzip nur begründet vermuten, daß hier Gedanken der Mutter beschrieben werden sollen. Nur der unvermittelte Vergleich mit einem nicht genauer definierten "sie", das durch den Folgesatz als die Mutter identifiziert werden kann und der aus diesem Vergleich mit "Tante Maria" folgende Satz der Mutter, läßt darauf schließen, daß ihre Gedanken gemeint sind. Ein weiteres Stilmittel hilft, die folgenden Gedanken dem Vater zuzuordnen. Die Parataxe ab Z. 11 läßt wieder auf Gedanken einer Person schließen, da Bichsel sich wohl nicht so unbeholfen ausdrücken muß, benutzt er diese Ausdrucksweise eher dazu, einerseits eine Person zu charakteri- sieren und andererseits eine Assoziationskette als solche darzustellen. Die unvermittelte Ergänzung dieser Aufzählungen mit einem Erlebnis des Vaters ("Der Vater holte sich...auch..." Z. 14) macht eine Verbindung der Gedanken mit ihm schlüssig. Die Beziehungsproblematik zwischen Tochter und Eltern, die den ganzen Text über unterschwellig mitschwingt, aber nie konkret genannt wird, beginnt eigentlich schon mit der Überschrift: "Die Tochter". Vollkommen distanziert nicht warm "Unsere (liebe) Tochter", sondern neutral, kalt, ohne Beziehung. Dieser Eindruck der Beziehungskälte setzt sich im Text fort: "Sie war immer ein liebes Kind." Die Frage was sie eigentlich nun ist, drängt sich unweigerlich auf, und bleibt un- beantwortet, denn die Mutter kann nur über die Jugend ihrer Tochter etwas aussagen, über das "Jetzt" weiß sie recht wenig. Im Prinzip handelt der ganze zweite Abschnitt von Gedanken der Eltern daran, was ihre Tochter im Augenblick tut, ob sie immer noch der gleiche Mensch wie früher ist. Sie erinnern sich daran, daß sie sie gefragt haben, was sie in der Stadt tut, in ihrem Alltagsleben, über das sie jedoch zu ihren Eltern nicht mehr sprechen will. Aus dieser "Informationssperre" heraus entwickeln sich Gedanken, wie die von Z. 22 ff. Die Eltern stellen sich vor, wie es ihrer Tochter geht. Ein weiteres Signal für die innere Distanz zwischen Eltern und Tochter ist Z. 33: "..., eine Vase aus der Stadt, ein Geschenk- vorschlag aus dem Modejournal". Die Tochter kann ihren Eltern nur etwas unper- sönliches, ein Anstandsgeschenk, einen ohne viel Liebe ausgesuchten Gegenstand schenken. Nicht nur die Eltern wissen folglich wenig von ihrem Kind, die Tochter weiß umgekehrt auch wenig von ihnen. Sie hat jedoch keine Lust mehr, sich über sie zu informieren, oder sich mit ihnen zu beschäftigen.(s. o.) Am liebsten zöge sie sofort in die Stadt.(Z.29) Die verzweifelten Versuche ihrer Eltern mit ihr ein Gespräch anzufangen wirken geradezu lächerlich: "Sag mal etwas auf französisch.", werden aber genauso wie jeder andere Kontaktversuch abgelehnt. Dies betont der Autor besonders durch den zweimal wiederkehrenden Satz: "Sie wußte aber nichts zu sagen." Z. 42 und Z. 20/21. Die Beziehung der Eltern untereinander ist auch nicht die Beste. Sie reden aneinander vorbei: Z. 37 - 39, Z.9, oder hören dem "Gesprächspartner" gar nicht erst zu. Als weiterer "Graben zwischen den Generationen" erweist sich die Bildungsdifferenz. Die Eltern, einfache Leute vom Land (Der Vater ist Arbeiter siehe Lohntüte), haben es schwer mit der Tochter, einer Angestellten, aus einer anderen Welt. So ist vermutlich der Hinweis in Z. 43/44 zu verstehen. Sie zeigen dies auch durch ihre zwanghafte, unflexible Art an den "Ritualen" des Alltags festzuhalten. So warten sie täglich eine Stunde, anstatt irgendeiner Beschäftigung nachzugehen, was möglich wäre (Z.30). Die Aufforderung "Sag mal etwas auf französisch" soll vermutlich auch die Bildungsdifferenz zeigen. Die Eltern wollen ihre Tochter dazu bringen, ihnen ihre Bildung zu beweisen. Damit unterstreicht der Autor noch die von vorneherein gegebene Distanz zwischen Tochter und Eltern. Ein weiteres Element, das die Situation der Eltern beschreibt, ist eine lang- weilige und monotone Darstellung der Gedanken, die auch in den Gesprächen der Eltern Ausdruck findet. Die Monotonie in den Gedanken wird durch die Para- taxen erreicht, die der Gespräche hauptsächlich durch den Inhalt, der, wie die Leute selbst sagen, sich sowieso wiederholt: "Andere Mädchen rauchen auch"... "Ja..., das habe ich auch gesagt." Z. 38. Die Monotonie findet ihren Höhepunkt im Schluß. Der Leser wartet vom ersten Satz der Geschichte an, auf die Ankunft der Tochter und eine weitere Entwicklung der Handlung. Der Autor macht mit jedem weiteren Satz der Geschichte diese Hoffnung zunichte, indem er die Gedanken der Eltern in den Mittelpunkt rückt, und der Leser erfährt, daß sich das Warten gar nicht lohnt. Der Schluß bleibt zwar offen, die weitere Handlung ist jedoch aus den Gedanken der Eltern ersichtlich.