Deutsch - Klausur 12.1.1 20.10.95 ------------------------ 20.11.95 Thema 5: Interpretation von M.L. Kaschnitz: "Ein ruhiges Haus" -------------------------------------------------------------- Der Kurztext "Ein ruhiges Haus" von Marie Luise Kaschnitz ist eine Kritik an der Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft. Der Text ist in Dialogform geschrieben. Eine Bewohnerin des in der Überschrift genannten Hauses spricht mit einem nicht genannten Gesprächspartner, der ihr Fragen stellt. Diese tauchen jedoch nur indirekt als rhetorische Fragen im Text der Hausbewohnerin auf, die Fragestellungen wurden weggelassen. Der Kurztext ist deutlich in zwei Teile und Zeitebenen geteilt: Die Vergangen- heit, bevor der Hauswirt den Eltern der kleinen Kinder mit einer Kündigung ge- droht hat (bis Z. 15) und die Jetztzeit "danach" (Z.15), in der "die Kinder zum Schweigen"(Z.18) gebracht sind. Der erste und zweite Satz haben eine Rahmenfunktion und stellen sowohl eine Verbindung zur Überschrift ("ein ruhiges Haus") als auch zum zweiten Teil des Textes her ("jetzt"). Das Motiv der Ruhe wird durch zweimalige Wiederholung der Überschrift mehrfach aufgegriffen und bildet durch diese Betonung einen direkten Kontrast zum darauffolgenden ersten Teil des Textes. Der Text bekommt durch diesen Rahmen um den ersten Teil schon fast eine elliptische Form. Der erste Teil des Textes beginnt mit einer Beschreibung der "Hölle" (Z.2), in der sich das kinderlose Ehepaar zu befinden glaubt. (Z.2-4). Die Kinder werden mit allerlei negativen Begriffen belegt: "Geheul", "Geschrei". (Z. 4) Ihre Füße werden zu zornigen Wesen personifiziert, die es nur darauf abgese- hen haben, die kinderlosen Unter- bzw. Obermieter zu quälen. Darauf folgt in steigernder Form die Reaktion des kinderlosen Ehepaars. (Z. 5 - 13) Zuerst wird mit dem Besenstil gegen Fußboden und Decke gestoßen, quasi Lärm mit Lärm bekämpft. Dann telefoniert der Mann der erzählenden Bewohnerin mit den Eltern der Kin- der. Die Begründung der Eltern für den Lärm wird "natürlich"(Z.10) nicht ak- zeptiert und als Ausrede abqualifiziert. Die Möglichkeit, daß die Eltern die Wahrheit sagen könnten, wird nicht erwähnt und liegt deshalb vermutlich voll- kommen außerhalb des Vorstellungsvermögens dieser Menschen. Die Penetranz, aber auch die Hinterhältigkeit und Rücksichtslosigkeit dieser kinderfeindlichen Hausbewohner zeigt sich bereits im nächsten Schritt: Konse- quent wird Beschwerde um Beschwerde beim Vermieter abgeliefert ("jede Woche einmal")(Z.12). Der mit Sicherheit selber kinderfeindliche Vermieter reagiert prompt und droht den beiden Familien mit Kindern mit fristloser Kündigung. Dieser Schritt des Vermieters ist durchaus mit eingeplant gewesen, wie man aus dem übernächsten Satz herauslesen kann. die beschränkten finanziellen Mittel dieser Familien lassen eine Gegenwehr nicht zu. (Z.16/17) Hier zeigt sich die Hinterhältigkeit und Rücksichtslosigkeit dieser Leute. Man kann die- sem Satz (Z. 16/17) jedoch auch eine Kritik an der sozialen Benachteiligung von Familien mit Kindern entnehmen. An dieser Stelle beginnt der zweite Teil des Textes, die Beschreibung der Jetztzeit. Sie beginnt mit den Worten: "Danach ist es gleich besser geworden." (Z. 15) Das Wort "besser" wirkt geradezu wie bittere Ironie angesichts der nun folgenden Beschreibung der Veränderung im Haus. Die Ruhe in diesem Haus wurde scheinbar durch üble Mißhandlung der Kinder erkauft. ("Bettpfosten", "starke Beruhigungsmittel".) (Z. 20, 22) Die Bewohnerin ist sich dieses Umstandes, den sie mitverschuldet hat, ganz und gar bewußt und steht sogar voll hinter diesen "Beruhigungsmethoden". Sie scheinen ihr die angemessene Möglichkeit, die lärmende "Hölle", die vormals geherrscht hat, zu beseitigen. Diese Beschreibung spiegelt schließlich wider, was sie an Stelle der Eltern getan hätte, nicht wie diese nun wirklich ihre Kinder permanent ruhighalten. Wenn aber nur ein Körnchen von dem, was sie sich vorstellt, wahr ist, so ist das immer noch schlimm genug. Das volle Ausmaß des Unverständnisses zeigt sich in den letzten Sätzen. (Z. 24-28). Für das kinderlose Ehepaar ist die Welt jetzt wieder in Ruhe und Ordnung. Sie grüßen die Eltern der Kinder wieder und erkundigen sich, im Glau- ben etwas Gutes zu tun, nach den Kindern. Was sie den Eltern damit antun, be- merken diese Menschen gar nicht. Die Frage nach den Kindern ist aus der Sicht der Eltern das Hohngelächter der Gewinner dieses Streites und ist, wenn auch nicht so gemeint, voll von gemeiner Ironie. Aus Angst vor einem weitern Kon- flikt und damit einer möglichen Kündigung, behaupten sie, den Kindern ginge es gut. Nur die Tränen in ihren Augen verraten ihre wahren Gefühle. Aber gerade diese Gefühle versteht die erzählende Bewohnerin nicht. Hier liegt das Kern- problem von ihr, ihrem Mann und allen anderen kinderfeindlichen Menschen: Die Vorstellung, daß die Eltern Zuneigung und Liebe zu diesen für die Nachbarn ei- gentlich nur lauten Kinder empfinden, ist ihnen vollkommen fremd. Die Erkennt- nis, daß sie selber einmal so klein waren fehlt völlig. Die Kinderfeindlichkeit ist auch heute noch ein ernst zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft. Zwar ist die Androhung einer fristlosen Kündigung durch den Kündigungsschutz der Mieter illusorisch geworden, jedoch ist das Problem dadurch eigentlich oft nur verlagert worden: Viele Vermieter entschließen sich einfach dazu, keine Familien mit Kindern eine Wohnung zu vermieten. Die soziale Benachteiligung hat sich angesichts steigender Mietpreise sogar noch ver- schärft. Ich persönlich hatte glücklicherweise in meiner Kindheit keine Probleme mit kinderfeindlichen Nachbarn.