Deutsch - Klausur 12.1.2 9.1.96 ------------------------ 25.1.96 4. Interpretation von Thomas Bernhard: Ereignis ----------------------------------------------- Der Kurztext "Ereignis" von Thomas Bernhard kritisiert die Rationalisierung in der Industrie, die das Ersetzen von Menschen durch Maschinen und damit ganz neue Gefahren mit sich brachte. Der Text läßt sich in drei Teile untergliedern: Die einleitende Beschreibung bis Z. 6 erklärt die Funktion der Maschine. Nach einer Überleitung wird im zweiten Teil (Z. 9 - 16) ausführlich die Einweihung und die Inbetriebnahme der Maschine beschrieben. Der letzte Teil schließlich beschreibt die Tötung der Arbeiterin durch die Maschine. Der Text ist mit "Ereignis" überschrieben; nicht mit "Unglücksfall", was schließlich auch möglich gewesen wäre. Das Wort "Ereignis" jedoch ist vollkommen neutral und frei von jeglichen Gefühlen. Die Neutralität geht so weit, daß man beim ersten Lesen sogar glauben könnte, daß das beschriebene Ereignis die Ein- weihung der Maschine ist. Diese nüchterne, berichtende Sprache wird auch im weiteren Text beibehalten. Der Autor scheint keinerlei Anteil am Erzählten zu zeigen und zeigt damit gerade die Entmenschlichung und Unmenschlichkeit der Rationalisierung und Mechanisierung auf. Der erste und der letzte Teil des Textes bilden einen Rahmen um den zweiten Teil. Der erste Teil enthält bereits das Signalwort "Guillotine", das auf das grau- same Ende des Textes schließen läßt. Eine Guillotine ist ein Instrument, aus- schließlich um Menschen zu töten, und da die Maschine mit einer solchen ver- glichen wird, liegt der Schluß bereits hier nahe, daß sie dies auch tun wird. Im Gegensatz zum mittleren Teil sind die Rahmenteile im Präsens geschrieben. Diese Zeitform gibt diesen Textstücken etwas berichtendes. Da das Präsens je- doch auch für immer wiederkehrende Handlungen benutzt wird, kann man darin auch das monotone Arbeiten sowohl der Maschine als auch der Arbeiterinnen sehen. Diese stupiden, immer wiederkehrenden Bewegungen bringen die Arbeiterinnen schließlich dazu, "gewohnheitsmäßig"(Z. 25) zu reagieren und den Kopf der Ver- unglückten genauso zu behandeln wie die Gummistücke. Die Weiterführung der im ersten Teil beschriebenen Handlungsabläufe im letzten Teil geben dem Text eine elliptische Form. Die Art der Beschreibung der Arbeitsgänge legt direkt nahre, daß die Maschine trotz des Unglücksfalles weiterarbeiten wird, unabhängig von äußeren Einflüssen und davon, ob sie nun Gummistücke schneidet oder etwas anderes. Das Verunglücken des Mädchens würde vermutlich durch die Firmenleitung als "menschliches Ver- sagen" dargestellt, und man würde es damit bewenden lassen. Diese Theorie wird umso wahrscheinlicher, wenn man die Anbetung der neuen Technik durch die Fa- brikleitung und die Ingenieure mit einbezieht. Der zweite Teil des Textes erzählt im Präteritum von "dem Tag, den niemand vergessen wird", dem großen Ereignis der Installation der Maschine. Die anwe- senden Herren scheinen die Maschine fast wie einen "Herrscher" anzubeten. ("Musikkapelle"(Z.13), "abgenommene Hüte"(Z.14)) Die Arbeitsleistung und Zuverlässigkeit beeindruckt die Besitzer, und sie verschwenden keinerlei Gedanken auf die Sicherheit. Dieser Teil stellt einen harten Kontrast zu den anderen beiden Teilen, vor allem zum dritten Teil dar. Die "Größte Errungenschaft der Technik", das in den höchsten Tönen gelobte und mit großen Aufwandt gebaute "Arbeitstier" erweist sich schon sehr bald als tödliche Falle. Aber noch subtilere Gegensätze fallen auf. Die Nutznießer der Maschine, die Besitzer und Ingenieure sind Männer, während die Opfer, die Hilfsarbeiterinnen, Frauen sind. Bis heute zeigt sich in den Fabriken, daß die Frauen die schlechter bezahlten, schmutzigeren und gefährlicheren Arbeiten zugedacht bekommen. Die Frauen müssen "einen Stock tiefer"(Z.3), was man auch im übertragenen Sinne verstehen darf, die stupiden, maschinellen Handlungen durchführen, während die Herren in den höheren Etagen "intellektuelleren" Arbeiten nachgehen. (Besitzer in der Verwaltung, Montage der Maschine durch die Ingenieure) An dieser Stelle (Z. 16 Ende) könnte der Text zu Ende sein. Jedoch kommt jetzt gleich einem Holzhammer das eigentliche "Ereignis" auf den Leser zu. Es beginnt mit einer als nebensächlich abgetanen("nur"(Z.17)) Begleiterscheinung der Ma- schine: Sie muß alle vierzehn Tage geölt werden. Schnell stellt sich für den Leser heraus, daß der Autor mehr will, als nur die Technik beschreiben, und der Text schlägt in den Bericht eines Unglücksfalles um: In Z.20 wird konkret eine Arbeiterin eingeführt, der alles "bis ins kleinste" erklärt wird. Die Wörter "bis ins kleinste" lassen auf mehrererlei schließen: Einmal auf eine große Unsicherheit seitens des Erklärenden und Angst vielleicht, diese Arbeit selber durchzuführen. Sicher ist, daß die Gefahr, die von dieser Wartungs- arbeit ausgeht, durchaus bekannt ist. Damit ergibt sich zum anderen, daß diese Aufgabe nur einem in den Augen der Verantwortlichen "dummen" Mädchen anvertraut werden kann, dem man alles haar- klein erklären muß, das jedoch trotz aller "Sicherheitsvorkehrungen" verun- glückt. Dann geht alles recht schnell: Das Mädchen rutscht aus und wird von der Ma- schine geköpft. Der Autor nennt das Ausrutschen "unglücklich", die Firmenlei- tung würde vermutlich von "menschlichem Versagen" sprechen und der Leser weiß, daß es sich hier nicht um ein einzelnes Ereignis handeln kann, sondern etwas, was sich mit Sicherheit auf ähnliche, vielleicht weniger grausame Weise, in jeder Fabrik wiederholen kann, etwas was im Kern der Mechanisierung steckt. Denn die Arbeiterinnen, schon fast Teil der Maschine geworden, verpacken den Mädchenkopf wie ein wertloses, austauschbares Stück Gummi. Zusammenfassend zeigt sich eine deutliche "Entmenschlichung" des Produktions- prozesses. Der Mensch verliert die Kontrolle an gefühlslose Maschinen, die ihre Arbeit ohne Gefühle, unabhängig von moralischen Überlegungen verrichten und gegebenenfalls, wie hier vorgeführt, gnadenlos töten. Denn hätte ein Mensch die Gummistücke geschnitten, wäre ein solcher Unfall unmöglich gewesen. Jedoch führt das Denken der Fabrikbesitzer in ökonomischen Kriterien zwangs- läufig zur Einführung von Maschinen. So kann man den Text im weiteren Sinne als Kritik am Kapitalismus verstehen.