Klausur 12.2.2 19.6.96 5. Interpretation des vierten Bildes von "Der jüngste Tag" In Ödön von Horvaths Volksstück "Der jüngste Tag" verursacht der Bahnhofsvorstand Thomas Hudetz infolge momentaner Ablenkung ein Eisenbahnunglück mit 18 Toten. Abgelenkt wird er durch die Wirtstochter Anna, die, um Hudetz eifersüchtige Frau zu verärgern, ihm unter ihren Augen einen Kuß gibt. Bei der folgenden Gerichtsverhandlung schwört Anna einen Meineied, indem sie für Hudetz und gegen dessen Frau aussagt. Nachdem Hudetz nach vier Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen wird, folgt die Aussprache mit Anna im vierten Bild des Stückes, nachts an einem Viadukt. Das vierte Bild läßt sich grob in zwei Teile teilen. Im ersten Teil begegnet Hudetz dem Gendarm auf dessen Rundgang. Der zweite Teil beinhaltet dann das Gespräch mit Anna, und, wenn auch nur angedeutet, die Ermordung Annas durch Hudetz. Die Regieanweisungen am Anfang der Szene beschreiben eine düstere Umgebung, die voll von dunklen Vorahnungen auf den Mord am Ende des Bildes ist: "Schluchtartige Gegen", Pfeiler "ragen in den Himmel" und Stille "wie die ewige Ruh". Das Ganze erinnert stark an eine Gruft. Das Gespräch zwischen Hudetz und dem Gendarm beginnt bereits mit einer Lüge: Hudetz behauptet, er ginge bloß spazieren. Auf die ungläubige Frage des Gendarm "Mitten in der Nacht?" antwortet er mit "Ich hab nichts gegen die Nacht-". Der letzte Satz ist ein direkter Bezug auf den letzten Satz des zweiten Bildes, in dem Frau Hudetz zum Staatsanwalt sagt "ich hab die Sonne sehr gern." Sonne ist hierbei ein Symbol für Wahrheit ("Die Sonne dürfte es dann wohl an den Tag bringen bei der Verhandlung..."(S.28)). Hudetz drückt mit seinem Satz also indirekt aus, daß er keine Abneigungen gegen die Unwahrheit, im konkreten Fall also den Meineid der Anna hat. Man kann diesen Satz auch als Vorankündigung des Mordes am Ende des Bildes lesen: Die Nacht ist schwarz. In der Farbsymbolik ust das due Farbe des Todes. Zu beachten ist dabei, daß sich diese Gedankenverbindung für den Gendarm nicht ergibt; sie entsteht nur im Kopf des Zuschauers. Im weiteren Gespräch ergibt sich, daß Hudetz "neuerdings nicht gut" schläft.(S.39u.) Er hat also, Bezug nehmend auf die vorhergehenden Worte des Gendarms "ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen" (S.39 m.) kein gutes Gewissen. Von einem echten Eingeständnis seiner Schuld ist er jedoch, wie sich später im Gespräch mit Anna zeigt, noch weit entfernt. Das Gespräch mit dem Gendarm blockt er ab, als dieser auf Schuldgefühle zu sprechen kommt. Der Gendarm verabschiedet sich und es beginnt der zweite Teil des bildes: Anna tritt auf. Der Beginn des Gesprächs wird sogleich von der Vergangenheit überschattet. Ein Zug fährt über das Viadukt, den Anna sofort als Personenzug zu erkennen glaubt, während Hudetz ihn nüchtern als Expreß identifiziert. Hieraus kann man bereits die gegensätzliche Position von Anna und Hudetz ablesen. Während sie pausenlos an den Unglücksfall denken muß und ihre ganze Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, zeigt sich Hudetz fast unbeteiligt. Dahingehend ist vermutlich auch Annas "Trotzdem." (S.40m.) zu interpretieren: Obwohl offensichtlich kein Personenzug über das Viadukt fährt bleibt es für sie immer der gleiche Zug, den sie in ihm sieht, derjenige, dessen Unglück sie mitverursacht hat. Annas verändertes Verhältnis zu den Dorfbewohnern zeigt sich ebenfalls am Anfang des Gesprächs: "Ich bin heimlich fort, denn es soll niemand wissen, daß wir uns hier treffen."(S.40 m.) Sie hat nun offensichtlich Angtst vor den anderen Dorfbewohnern und ihrem boshaften Gerede. Namentlich fürchtet sie sich vermuclith vor der Boshaftigkeit von Frau Leimgruber. Das Gespräch zwischen Anna und Hudetz wird häufig durch die Regieanweisung "Stille." unterbrochen. Damit stellt sich sofort eine Untergliederung in einzelne Sinnabschnitte ein. Diese "Stille" soll den Zuschauer direkt ansprechen und zum Midenken anregen. Der nöchste dieser Abschnitte beginnt mit der Frage von Hudetz, was Anna ihn denn nun zu erzählen habe. Dann folgt die Aufforderun "Also los. Ersten, zweitens, drittens." In diesem Satz spiegelt sich die ganze kleinbürgerliche Beamtenmoral diese Bahnhofsvorstands wieder. Man hat fast das Gefühl, als ließe er Anna ein Formular ausfüllen. Nach einer weiteren "Stille" folgt die Kernfrage der Szene "Herr Vorstand, habens denn keine innere Stimme mehr=" Mit innerer Stimme meint Anna das Gewissen und fragt Hudetz damit, ob er keinerlei Schuldbewußtsein für das Unglück entwickelt hat. Diese Frage beinhaltet auch denGRund für das gesamte Gespräch, denn Anna ist sich ihrer Schuld inzwischen sehr wohl bewußt, hat in dieser Richtung eine Veränderung durchgemacht. Sie scheint Hudetz trotz allem noch zu mögen, sonst würde sie sich wohl kaum mit ihm aussprechen wollen. Sie hat sich ihre Schuld inzwischen eingestanden und verlangt jetzt von Hudetz, daß er es ihr gleichtut, damit sie gemeinsam für ihre Verbrechen sühnen können: Anna für ihren Meineid, die Verführung von Hudetz und damit die Mitverantwortung an dem Zugunglück; Hudetz für seine Mitschuld an dem Zugunglück zbd seuber Falschaussage vor Gericht. Der Sündenfall aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel findet sich bei dieser Schuldfrage wieder: Eva zerstört durch die Verführung Adams ihre beiden Leben, und sie werden gemeinsam aus dem Paradies vertrieben. Auch Anna und Hudetz werden durch ihrer beide Schuld an dem Unglück zusammengetrieben. Doch wie in der Bibel möchte der Mann seine Schuld nicht eingestehen und lastet alles der Frau an. ("Wer wäre denn sonst noch schuld außer Ihnen?" (S.41 m.)) Da Hudetz auf die Frage nach seinem Gewissen nicht antwortet und Anna nur anstarrt, setzt sie ihn unter Druck und fragt ihn unverblümt, was er denn tun würde, wenn sie die Wahrheit über das Unglück verbreiten würde. Damit wird im Vorgriff bereits ein Motiv für den Mord an Anna genannt, nämlich die ganz banale Notwendigkeit für Hudetz eine Zeugin zu beseitigen. Hudetz reagiert auf diese Ankündigung Annas erschreckt und herrscht sie an "Ruhe!" (S.41o.). Nun wird ein Bezug zum ersten Bild aufgebaut, indem Hudetz verkündet, er würde Anna in einem solchen Fall nicht umbringen. (S.41o.) ("Wollens mich umbringen?"(S.15)) Andererseits ist das wiederum, im Nachhinein gesehen die Unwahrheit, denn Hudetz WIRD Anna umbringen. Anna antwortet mit "Schad." und fügt erklärend hinzu, daß sie nicht mehr leben möchte. Sie möchte für ihre Schuld mit dem höchsten und wertvollsten sühnen, das sie besitzt: mit ihrem Leben. Hier zeigt sich am deutlichsten, wie sich die muntere, vielleicht etwas kindliche Anna des ersten Bildes zu der ?abgeklärten? und auf seltsame Weise gealterten Anna des vierten Bildes verändert hat.